Kapitel 10

Diese Geste löste in mir ein eigenartiges Gefühl aus, obgleich mir klar war, daß es sich nur um eine zufällige Anordnung von Knochenmaterial handelte. Doch ein Archäologe hat kaltblütig zu sein, weshalb ich meine Empfindungen für mich behielt.

»Wo liegt der Rest von ihm?« wollte ich wissen.

»Unter dem Gesteinsquader«, antwortete Vandergelt. »Offenbar handelt es sich hier um einen Fall von ausgleichender Gerechtigkeit, Mrs. Amelia – einem Dieb, der im allerwörtlichsten Sinne auf frischer Tat erwischt wurde.«

Ich blickte hoch zur Decke. Die rechteckige Spalte in der Oberfläche bildete eine dunkle Öffnung. »Könnte es ein Unfall gewesen sein?« fragte ich.

»Kaum«, erwiderte Emerson. »Wie wir leider feststellen mußten, ist das Gestein hier gefährlich brüchig. Die symmetrische Form des Blocks beweist jedoch, daß er absichtlich aus dem Ganggestein herausgemeißelt und so befestigt wurde, daß er herunterfiel, sobald ein Dieb unwissentlich den Auslösemechanismus betätigte. Faszinierend! Wir haben schon viele solcher Vorrichtungen gesehen, Peabody, aber noch keine, die so gut funktionierte.«

»Sieht so aus, als sei der Brocken fast einen Meter dick«, meinte Vandergelt. »Ich glaube, von dem armen Teufel ist nicht viel übriggeblieben.«

»Jedenfalls genug, um unsere Arbeiter aus der Fassung zu bringen«, entgegnete Emerson.

»Aber wieso denn?« fragte ich. »Sie haben doch schon Hunderte von Mumien und Skeletten ausgegraben.«

»Nicht unter diesen besonderen Umständen. Könnte es denn einen noch überzeugenderen Beweis dafür geben, daß er wirksam ist, dieser pharaonische Fluch?«

Sein letztes Wort hallte aus der Tiefe wider: »Fluch … Fluch …«, und noch einmal ein schwach geflüstertes »Fluch …«, bevor es schließlich verklang.

»He, lassen Sie den Quatsch, Professor«, sagte Vandergelt, dem unbehaglich zumute war. »Sie schaffen es noch, daß ich selbst anfange, über Dämonen nachzudenken. Was halten Sie davon, wenn wir uns für heute verdrücken? Es ist schon spät, und das Ding hier wird uns noch ziemlich zu schaffen machen.«

»Verdrücken? Sie meinen aufhören?« Emerson blickte ihn entgeistert an. »Nein, nein, ich muß herausfinden, was unter dem Quader liegt. Peabody, hol Karl und Abdullah.«

Ich fand Karl, wie er mit dem Rücken gegen den Zaun gelehnt sorgfältig eine Inschrift kopierte. Emersons dringlicher Aufforderung zum Trotz konnte ich nicht umhin, einen Augenblick lang stehenzubleiben und zu staunen, wie rasch seine Hand die komplizierten Formen der Hieroglyphen nachzeichnete: winzige Vögel und Tiere, Gestalten von Männern und Frauen, und die schwerer verständlichen Symbole, die an Blumen, architektonische Formen und so etwas erinnerten. Der junge Mann war so sehr in seine Arbeit vertieft, daß er mich nicht bemerkte, bis ich ihn an der Schulter berührte.

Mit Karls und Abdullahs Hilfe schafften wir es, den Quader hochzuhieven, obwohl das eine knifflige und gefährliche Prozedur war. Mit Hebeln und Keilen wurde er Zentimeter um Zentimeter hochgestemmt und schließlich zur Seite gekippt, so daß die Überreste des vor langer Zeit getöteten Diebes zum Vorschein kamen. Man konnte sich nur schwer vorstellen, daß dieses Häufchen brüchiger Knochen einst ein Mensch gewesen war. Auch der Schädel war völlig zertrümmert.

»Hol’s der Teufel, jetzt brauchten wir unseren Photographen«, murmelte Emerson. »Peabody, geh zum Haus und …«

»Seien Sie doch vernünftig, Professor«, meinte Vandergelt. »Das hat noch bis morgen Zeit. Sie wollen doch nicht, daß Ihre Frau nachts auf der Hochebene herumläuft?«

»Ist es schon Nacht?« fragte Emerson.

»Erlauben Sie, daß ich eine Skizze anfertige, Herr Professor?« fragte Karl. »Ich zeichne zwar nicht so schön und gekonnt wie Miss Mary, aber …«

»Ja, ja, das ist eine gute Idee.« Emerson ging in die Hocke. Mit Hilfe einer kleinen Bürste begann er, die Staubschicht von den Knochen abzutragen.

»Ich weiß nicht, was Sie zu finden hoffen«, brummte Vandergelt, wobei er sich über die schweißnasse Stirn strich. »Dieser arme Bursche war ein Bauer; er hat sicher keine Wertgegenstände bei sich gehabt.«

Doch noch während er das sagte, war unter dem Staub, den Emerson mit seiner Bürste weggewischt hatte, ein Funkeln zu sehen. »Wachs«, sagte Emerson barsch. »Beeil dich, Peabody, ich brauche Wachs.«

Ich gehorchte ohne Umschweife – nicht dem herrischen Befehl eines tyrannischen Ehemannes, sondern dem dringlichen Bedürfnis eines Berufskollegen. Paraffin gehörte zu den Utensilien, die wir für gewöhnlich stets griffbereit hatten; es wurde benutzt, um zerbrochene Gegenstände solange zusammenzuhalten, bis ein dauerhaftes Klebemittel verwendet werden konnte. Über meiner kleinen Spirituslampe erhitzte ich eine beträchtliche Menge Wachs und lief dann schnell zum Grab zurück, wo Emerson inzwischen den Gegenstand gesäubert hatte, dessen erstes Funkeln andeutete, daß Gold im Spiel war.

Er riß mir die Pfanne aus der Hand, ohne sich darum zu scheren, daß sie heiß war, und ließ die Flüssigkeit langsam auf den Boden tröpfeln. Ich erkannte nur einige Farbtupfer – Blau, ein rötliches Orange und Kobalt –, bevor das aushärtende Wachs den Gegenstand umschloß.

Emerson verstaute das Ganze in einer Schachtel und ließ sich dann – mit seiner Beute in den Händen – dazu überreden, für heute die Arbeit zu beenden. Abdullah und Karl sollten als Wachen im Grab zurückbleiben.

Wir waren schon fast beim Haus angelangt, als Emerson sein langes Schweigen brach. »Kein Wort darüber, Vandergelt, auch nicht gegenüber Lady Baskerville.«

»Aber …«

»Ich werde sie zur gegebenen Zeit und unter entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen darüber informieren. Hol’s der Teufel, Vandergelt, die meisten der Dienstboten haben in den Dörfern Verwandte. Wenn sie erfahren, daß wir Gold gefunden haben …«

»Ich verstehe schon, Professor«, erwiderte der Amerikaner. »He – wohin gehen Sie denn?« Emerson hatte, anstatt auf dem Pfad zum Eingangstor zu bleiben, den Weg zur Rückseite des Hauses eingeschlagen.

»In unser Zimmer natürlich«, lautete die Antwort. »Sagen Sie Lady Baskerville, wir kommen, sobald wir gebadet und uns umgezogen haben.«

Wir ließen den Amerikaner stehen. Als wir durch unser Fenster kletterten, dachte ich zufrieden daran, wie bequem dieser Eingang war – und weniger zufrieden daran, wie leicht Unbefugte sich auf diese Weise Zutritt verschaffen konnten.

Emerson zündete die Lampen an. »Verriegle die Tür, Peabody.«

Ich tat wie geheißen und zog auch die Vorhänge zu. Inzwischen räumte Emerson den Tisch frei und breitete ein sauberes weißes Taschentuch darauf aus. Er öffnete die Schachtel und legte den Inhalt vorsichtig auf das Tuch.

Seine Erfahrung in der Verwendung von Wachs als Bindemittel für Bruchstücke war nicht zu verkennen. Obgleich die Einzelteile zermalmt und verstreut waren, waren noch Spuren der Originalstruktur erhalten geblieben. Hätte Emerson sie einzeln aus dem Staub gepickt, wäre jegliche Hoffnung, das Objekt zu restaurieren, dahin gewesen.

Es handelte sich um einen Brustschmuck oder Anhänger in Form eines geflügelten Skarabäus. Das Mittelteil war aus einem Lapislazuli gefertigt, und dieser harte Stein war fast unbeschädigt geblieben. Die feingeformten Flügel hingegen, die aus einer dünnen Goldschicht mit kleinen Stücken Türkis und Karneol bestanden, waren so sehr zerstört, daß nur ein Experte – jemand wie ich also – ihre Form erahnen konnte. Der Skarabäus ruhte in einer Fassung aus Gold, die unter anderem mit zwei Kartuschen, die die Namen eines Pharaos trugen, verziert war. Diese winzigen Hieroglyphen waren nicht in das Gold geritzt, sondern als Intarsien gearbeitet, wobei man jede winzige Form aus einem Edelstein geschnitten hatte. Obwohl sie nun in unzählige Einzelteile zerbrochen waren, erkannte mein geübtes Auge sofort ein aus Lapislazuli geschnittenes »ench« und ein winziges Stück Türkis, das ein »u« oder »w« darstellte.

»Guter Gott«, sagte ich. »Ich bin überrascht, daß es nicht zu Staub zermahlen wurde.«

»Es lag unter dem Körper des Diebes«, erwiderte Emerson. »Seine Leiche hat das Schmuckstück vor dem Aufprall geschützt. Als der Leichnam zerfiel, senkte sich der Stein, wodurch das Gold zwar gepreßt wurde, aber nicht zersplitterte, was geschehen wäre, wenn der Quader direkt darauf gefallen wäre.«

Dank meiner geübten Vorstellungskraft fiel es mir nicht schwer, mir dieses antike Drama und seinen Ablauf auszumalen: Die Grabkammer, nur durch die rußige Flamme einer billigen tönernen Lampe erhellt, der Deckel des großen Steinsarkophags beiseitegeworfen und das gemeißelte Gesicht des Toten, das geheimnisvoll auf die verstohlenen Gestalten starrt, die hin und her eilen, ganze Händevoll Juwelen zusammenrafften und goldene Statuen und Schalen in die Säcke stopften, die sie zu diesem Zweck mitgebracht haben. Auch wenn diese Diebe aus dem antiken Gurneh sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen ließen, konnten sie wohl doch nicht völlig frei von Angst gewesen sein, denn einer von ihnen hatte sich das Amulett des toten Königs um den Hals gelegt, so daß der Skarabäus über seinem heftig pochenden Herzen ruhte. Als er mit seiner Beute fliehen wollte, war er in die Falle geraten, deren Donnerhall sicherlich die Wächter der Totenstadt auf den Plan gerufen haben mußte. Die Priester, die den Schaden behoben, hatten den herabgestürzten Monolith als Warnung für zukünftige Diebe liegen gelassen; und wirklich hätte man, wie Emerson gesagt hatte, keinen besseren Beweis für den Zorn der Götter finden können.

Mit einem Seufzer kehrte ich in die Gegenwart und zu Emerson zurück, der den Gegenstand vorsichtig wieder in der Schachtel verstaute.

»Wenn wir bloß die Inschrift entziffern könnten«, sagte ich. »Das Amulett muß dem Besitzer unseres Grabes gehören.«

»Ach, das ist dir nicht gelungen?« Emerson grinste mich hämisch an.

»Meinst du denn …«

»Natürlich meine ich das. Deine weibliche Schwäche für Gold vernebelt dir den Verstand, Peabody. Benutz doch dein Hirn. Es sei denn, du willst, daß ich dir erkläre …«

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte ich und dachte hastig nach. »Aus der Tatsache, daß der Name und die Gestalt des Grabbesitzers ausgelöscht wurden, dürfen wir schließen, daß er einer der ketzerischen Pharaonen war – möglicherweise Echnaton selbst. Das heißt, falls der Bau des Grabes zu Anfang seiner Herrschaft begonnen wurde, bevor er Theben verließ und die Anbetung der alten Götter verbot. Die Fragmente der verbliebenen Hieroglyphen fügen sich jedoch nicht in seinen Namen. Es gibt nur einen Namen, der dazu paßt …« Ich zögerte und kramte rasch in meinem Gedächtnis. »Der Name von Tutenchamon«, sagte ich triumphierend.

»Hmmm«, machte Emerson.

»Wir wissen«, fuhr ich fort, »daß die Angehörigen des Königshauses …«

»Es reicht«, meinte Emerson grob. »Ich kenne mich auf diesem Gebiet besser aus als du, also halte mir keine Vorträge. Beeil dich bitte mit dem Umkleiden. Ich habe eine Menge zu erledigen, und ich möchte endlich damit anfangen.«

Normalerweise ist Emerson so frei von Kollegenneid, wie das ein Mann nur sein kann, doch gelegentlich reagiert er ungehalten, wenn sich herausstellt, daß ich ihm geistig überlegen bin. Also ließ ich ihn weiterschmollen, und während ich mich umkleidete, versuchte ich, mir ins Gedächtnis zu rufen, was ich über den Pharao Tutenchamon wußte.

Es war nicht viel über ihn bekannt. Er hatte eine der Töchter Echnatons geheiratet, war aber nach seiner Rückkehr nach Theben kein Anhänger des ketzerischen Glaubens seines Schwiegervaters geworden. Obwohl es stets ein unvergleichliches Erlebnis ist, ein Königsgrab zu entdecken, konnte ich nicht umhin, mir zu wünschen, daß wir jemand anderen gefunden hätten als diesen kurzlebigen König, der nicht lange regiert hatte. Einer der großen Amenhoteps oder Thutmosis’ wäre viel aufregender gewesen.

Die übrige Gesellschaft wartete bereits auf uns im Salon. Ich glaube, Emerson hatte vor Freude über seine Entdeckung Madame Berengeria ganz vergessen. Als er der fülligen Gestalt der Dame gewahr wurde, die wie gewöhnlich in ein absonderliches Gewand gehüllt war, huschte ein leidender Ausdruck über sein Gesicht. Allerdings schenkten uns die anderen kaum Beachtung; selbst Madame lauschte offenen Mundes Vandergelts Worten, der auf dramatische Weise die Überreste des Diebes beschrieb. (Er ließ dabei kein Wort über das Gold fallen.)

»Armer Kerl«, sagte Mary sanft. »Der Gedanke, daß er dort Tausende von Jahren liegt, betrauert von Frau und Mutter und Kindern, vergessen von der Welt …«

»Er war ein Dieb und Verbrecher, der sein Schicksal verdient hat«, sagte Lady Baskerville.

»Seine verwunschene Seele windet sich im glutroten Höllenschlund des Amenti«, sprach Madame Berengeria mit Grabesstimme. »Ewige Strafe … Untergang und Zerstörung … Äh, da Sie darauf bestehen, Mr. Vandergelt, möchte ich gerne noch einen Schluck Sherry.«

Vandergelt erhob sich folgsam. Mary preßte die Lippen zusammen, aber sie sagte nichts. Zweifellos wußte sie nur zu gut, daß jeglicher Versuch, ihrer Mutter Mäßigung zu empfehlen, nur in einem heftigen Streit enden würde. Was mich betraf, sollte sich die Dame nur bis zur Bewußtlosigkeit betrinken – je schneller, desto besser.

Lady Baskerville bedachte Madame mit einem verächtlichen Blick aus ihren schwarzen Augen. Sie erhob sich, als sei sie zu ruhelos, um stillsitzen zu können, und schlenderte zum Fenster. Das war ihre Lieblingspositur; die weißgetünchten Wände brachten die Anmut ihrer schwarzgekleideten Gestalt besonders gut zur Geltung. »Sie meinen also, wir nähern uns dem Ziel, Professor?« fragte sie.

»Möglicherweise. Ich will morgen bei Tagesanbruch ins Tal zurückkehren. Von nun an ist die Hilfe unseres Photographen sehr wichtig. Milverton, ich möchte … Wo zum Teufel steckt er denn?«

Ich entsinne mich noch sehr genau des ahnungsvollen Schauders, der mir in diesem Augenblick über den Rücken lief. Emerson mag darüber spotten, doch ich wußte auf der Stelle, daß etwas Schreckliches geschehen war. Eigentlich hätte mir sofort auffallen müssen, daß der junge Mann nicht anwesend war. Die einzige Entschuldigung hierfür ist, daß das archäologische Fieber mich noch immer gepackt hielt.

»In seinem Zimmer, nehme ich an«, meinte Lady Baskerville beiläufig. »Heute nachmittag fiel mir auf, daß er fiebrig aussah, deshalb riet ich ihm, sich hinzulegen.«

Quer durch den Raum blickten Emerson und ich einander an. Aus seiner ernsten Miene las ich eine Besorgnis, die meiner eigenen entsprach. Eine Welle unserer Gedankenübertragung mußte Lady Baskerville gestreift haben. Sie erbleichte sichtlich und stieß hervor: »Radcliffe, warum schauen Sie so merkwürdig? Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Keine Sorge«, erwiderte Emerson. »Ich will nur kurz nach dem jungen Mann sehen und ihn daran erinnern, daß wir warten. Die übrigen bleiben hier.«

Ich wußte, daß diese Anordnung nicht für mich galt. Emersons längere Beine verschafften ihm jedoch einen Vorsprung; er erreichte als erster die Tür zu Milvertons Zimmer. Ohne anzuklopfen, stieß er sie auf. Der Raum lag im Dunkeln, doch dank des sechsten Sinns, der uns vor der Anwesenheit eines anderen Menschen – oder dessen Abwesenheit – warnt, wußte ich sofort, daß niemand im Zimmer war.

»Er ist geflohen«, sagte ich. »Ich wußte, daß er ein schwacher Mensch ist. Ich hätte das vorhersehen müssen.«

»Warte einen Augenblick, Amelia, ehe du voreilige Schlüsse ziehst«, entgegnete Emerson, der ein Streichholz entfachte und die Lampe anzündete. »Er macht vielleicht nur einen Spaziergang oder …« Doch im Schein der Lampe setzte der Anblick des Raums dieser und jeder anderen harmlosen Erklärung ein Ende.

Obgleich die Zimmer für die Angestellten nicht mit dem Luxus ausgestattet waren, der die Gemächer von Lord Baskerville und seiner Gemahlin auszeichnete, waren sie ausreichend komfortabel. Lord Baskerville hatte – wie ich meinte, völlig zu Recht – die Ansicht vertreten, daß Menschen mehr leisten, wenn sie nicht durch äußere Unbequemlichkeiten abgelenkt werden. Das Zimmer enthielt eine eiserne Bettstatt, einen Tisch und einen Stuhl, einen Kleiderschrank und eine Kommode und die üblichen Waschvorrichtungen, die schicklich hinter einem Wandschirm verborgen waren. Im Zimmer herrschte ein heilloses Durcheinander. Die Schranktüren standen offen, aus den Schubladen der Kommode quollen völlig durchwühlt die Kleidungsstücke. Im Unterschied dazu war das Bett mit fast militärischer Genauigkeit gemacht, die Zipfel der Decke waren umgeschlagen und die Borden hingen säuberlich bis zum Boden.

»Ich wußte es«, stöhnte ich. »Ich hatte dieses Gefühl …«

»Sprich es nicht aus, Peabody!«

»… daß Verhängnis droht.«

»Ich habe dich doch gebeten, es nicht auszusprechen.«

»Doch vielleicht«, fuhr ich etwas fröhlicher fort, »vielleicht ist er ja gar nicht geflohen. Vielleicht ist diese Unordnung das Ergebnis einer hektischen Suche …«

»Wonach denn, in Gottes Namen? Nein, nein, ich fürchte, deine ursprüngliche Idee ist richtig. Hol diesen jungen Schurken der Teufel, er hat eine lachhaft umfangreiche Garderobe, findest du nicht? Wir werden nie herausfinden, ob ein Stück davon fehlt. Ich frage mich …«

Er hatte, während er das sagte, in den verstreuten Kleidungsstücken herumgewühlt. Nun stieß er mit dem Fuß den Wandschirm beiseite und untersuchte das Waschbecken. »Sein Rasierzeug liegt noch hier. Natürlich kann er auch noch ein zweites besitzen, oder er hat vor, sich Ersatz zu beschaffen. Ich gebe zu, daß es für den neuen Lord Baskerville allmählich schlecht aussieht.«

Ein schriller Aufschrei von der Tür her kündete das Erscheinen von Lady Baskerville an. Mit entsetzt aufgerissenen Augen stützte sie sich auf Vandergelts Arm.

»Wo ist Mr. Milverton?« kreischte sie. »Und was meinten Sie, Radcliffe, als sie sagten, daß … daß …«

»Wie Sie sehen, ist Milverton nicht hier«, erwiderte Emerson. »Doch er ist nicht … das heißt, sein wirklicher Name ist Arthur Baskerville. Er ist der Neffe Ihres verstorbenen Gatten. Er versprach, das heute den Behörden mitzuteilen, doch es sieht so aus, als sei er … Hier … Achtung, Vandergelt …«

Er sprang dem Amerikaner zu Hilfe. Denn als Lady Baskerville die Neuigkeit vernommen hatte, verlor sie umgehend die Besinnung, und zwar auf die denkbar anmutigste Art und Weise. Ich beobachtete mit hochmütigem Schweigen, wie die beiden Männer an der schlaffen Gestalt der Dame herumzerrten. Schließlich gewann Vandergelt die Oberhand und hob sie in seine Arme.

»Heiliger Strohsack, Professor, Taktgefühl gehört nicht gerade zu Ihren Stärken«, sagte er. »Stimmt denn das, was Sie über Milverton – meinetwegen Baskerville – sagten?«

»Natürlich«, erwiderte Emerson herablassend.

»Nun, das war ja ein Tag voller Überraschungen. Ich bringe jetzt die arme Dame in ihr Zimmer. Danach sollten wir vielleicht einen kleinen Kriegsrat abhalten und beratschlagen, was als nächstes zu tun ist.«

»Ich weiß, was als nächstes zu tun ist«, erwiderte Emerson. »Und genau das werde ich auch tun.«

Emerson schritt mit dem gestrengen Blick eines Richters zur Tür. Vandergelt verschwand mit seiner Last. Ich blieb zurück und sah mich noch einmal in dem Raum um, weil ich hoffte, einen bis dahin noch nicht entdeckten Hinweis zu finden. Obgleich Arthurs feige Flucht meinen Verdacht bestätigt hatte, verspürte ich kein Siegesgefühl, sondern nur Kummer und Betrübnis.

Doch – warum hätte er fliehen sollen? Noch heute morgen hatte er fröhlich gewirkt, wie befreit von seiner Angst. Was hatte in den dazwischenliegenden Stunden dazu geführt, daß er die Flucht ergriffen hatte?

Ich habe nie behauptet, über übernatürliche Kräfte zu verfügen. Aber bis zum heutigen Tage bin ich felsenfest davon überzeugt, daß ich einen kalten Windhauch verspürte, der mich erschauern ließ. Irgend etwas lag im argen, obwohl keiner meiner fünf Sinne mir mein Gefühl drohenden Unheils bestätigte. Wieder ließ ich meinen Blick durch das Zimmer streifen. Der Kleiderschrank stand offen, der Wandschirm war beiseite gestoßen. Aber es gab eine Stelle, an der wir nicht nachgesehen hatten. Ich fragte mich, warum ich nicht daran gedacht hatte, obgleich ich doch für gewöhnlich dort zuerst nachschaute. Ich kniete neben dem Bett nieder und hob die Überdecke an.

Emerson behauptet, ich hätte lauthals nach ihm gerufen. Daran erinnere ich mich nicht mehr, muß aber einräumen, daß er sofort zur Stelle war, nach Luft ringend, weil er so rasch herbeigerannt war.

»Peabody, mein Liebling, was ist los? Hast du dich verletzt?« Wie er mir später erzählte, hatte er nämlich angenommen, ich sei zusammengebrochen oder niedergeschlagen worden.

»Nein, nein, ich nicht – er ist verletzt. Er ist hier, unter dem Bett …«

Ich hob die Überdecke noch einmal hoch, die ich vor Schreck fallen gelassen hatte.

»Guter Gott!« rief Emerson. Er ergriff die schlaffe Hand, die mich als erstes auf Arthurs Anwesenheit hingewiesen hatte.

»Nicht!« schrie ich. »Er lebt noch, ist aber schwer verletzt. Wir dürfen ihn nicht bewegen, solange wir nicht die Art der Verletzung festgestellt haben. Meinst du, wir können das Bett anheben?«

In einer kritischen Situation handeln Emerson und ich wie ein eingespieltes Team. Er trat ans Kopfende des Bettes, ich ans Fußende. Vorsichtig hievten wir das Bett hoch und stellten es zur Seite.

Arthur Baskerville lag auf dem Rücken. Die Beine hatte er steif von sich gestreckt, die Arme fest an den Körper gepreßt; diese Lage war unnatürlich und erinnerte auf schreckliche Weise an die Pose, in der die Ägypter gewöhnlich ihre mumifizierten Toten aufbahrten. Ich fragte mich, ob meine erste Diagnose nicht zu optimistisch gewesen war, denn falls er atmete, war nichts davon zu bemerken. Es gab auch kein Anzeichen für eine Wunde.

Emerson ließ seine Hand unter den Kopf des jungen Mannes gleiten. »Das ist des Rätsels Lösung«, sagte er ruhig. »Er hat einen furchtbaren Schlag auf den Kopf bekommen. Ich fürchte, es ist ein Schädelbruch, Gott sei Dank hast du mich daran gehindert, ihn unter dem Bett hervorzuziehen.«

»Ich werde einen Arzt holen lassen«, sagte ich.

»Setz dich einen Augenblick, Liebes. Du bist weiß wie die Wand.«

»Mach dir um mich keine Sorgen. Schick gleich jemanden los, Emerson, womöglich zählt jede Minute.«

»Wirst du bei ihm bleiben?«

»Ich weiche nicht von seiner Seite.«

Emerson nickte. Seine starke, gebräunte Hand ruhte für einen Moment auf meiner Schulter – die Geste eines Kameraden und Freundes. Er brauchte nichts mehr zu sagen. Wieder einmal hatten wir den gleichen Gedanken. Wer auch immer Arthur Baskerville niedergeschlagen hatte, hatte vorgehabt, ihn zu ermorden. Diesmal war er (oder sie) noch gescheitert. Wir mußten dafür sorgen, daß er keine zweite Chance bekam.

Es war bereits nach Mitternacht, als Emerson und ich uns endlich in unser Zimmer zurückziehen konnten. Mit einem lauten Stöhnen ließ ich mich aufs Bett fallen.

»Was für eine Nacht!«

»Wirklich eine ereignisreiche Nacht«, stimmte Emerson zu. »Ich glaube, es war das erstemal, daß du zugegeben hast, vor einem Fall zu stehen, der deine Fähigkeiten übersteigt.«

Doch als er das sagte, setzte er sich neben mich und fing an, mein enges Kleid aufzuknöpfen, mit Händen, die so sanft waren, wie seine Stimme sarkastisch gewesen war. Ich räkelte mich genüßlich und erlaubte meinem Gatten, mir die Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Als er mir ein feuchtes Handtuch brachte und mir das Gesicht abzuwischen begann, setzte ich mich auf und nahm es ihm aus der Hand.

»Armer Kerl, man sollte sich auch um dich kümmern«, sagte ich. »Nach einer schlaflosen Nacht auf einem steinigen Lager hast du den ganzen Tag in dieser Höllenglut gearbeitet. Leg dich hin und laß mich dich verwöhnen. Es geht mir schon wieder besser, wirklich. Es gibt keinen Grund, mich wie ein Kind zu umsorgen.«

»Aber es hat dir gefallen«, meinte Emerson lächelnd. Ich demonstrierte ihm kurz und spürbar meine Wertschätzung. »Das stimmt. Aber nun bist du an der Reihe. Leg dich ins Bett und versuch, ein paar Stunden zu schlafen. Ich weiß ja, daß du trotz allem bei Tagesanbruch wieder auf den Beinen bist.«

Emerson küßte die Hand, mit der ich ihm über die Stirn strich (wie ich bereits erwähnte, ist er im Privaten erstaunlich gefühlvoll), doch dann wandte er sich von mir ab und fing an, im Zimmer hin und her zu laufen.

»Ich bin zu aufgeregt, um schlafen zu können, Peabody. Du brauchst mich nicht zu bemuttern. Wie du weißt, kann ich, wenn nötig, tagelang ohne Schlaf auskommen.«

In seinem zerknitterten weißen Hemd, das vorne ganz offenstand, so daß man seine muskulöse Brust bewundern konnte, war er wieder der Mann, den ich damals in der verlassenen Wildnis angehimmelt hatte; eine Weile sah ich ihn zärtlich schweigend an. Zuweilen vergleiche ich Emersons Statur mit der eines Stiers, denn sein bulliger Schädel und die unverhältnismäßig breiten Schultern erinnern wirklich an die Gestalt dieses Tieres, so wie seine Temperamentsausbrüche an dessen Naturell. Doch er hat einen erstaunlich leichtfüßigen und behenden Gang; wenn er sich so wie jetzt bewegt, ähnelt er eher einer großen Katze, einem heranpirschenden Panther oder einem Tiger.

Auch ich war nicht in der Stimmung zu schlafen. Ich stopfte mir ein Kissen in den Rücken und setzte mich auf.

»Du hast für Arthur alles getan, was du konntest«, sagte ich zu ihm. »Der Arzt hat versprochen, die Nacht über hier zu bleiben, und ich bin mir sicher, daß auch Mary ihm nicht von der Seite weicht. Ihre Besorgnis war sehr anrührend. Es wäre richtig romantisch, wenn es nicht so traurig wäre. Dennoch bin ich zuversichtlicher als Dr. Dubois. Der junge Mann hat eine starke Konstitution. Ich glaube, er hat gute Chancen, wieder auf die Beine zu kommen.«

»Doch er wird – wenn überhaupt – tagelang nicht sprechen können«, entgegnete Emerson in einem Tonfall, der mir klarmachte, daß sowohl Romantik als auch Tragik an ihn verschwendet waren. »Die Sache wächst mir allmählich über den Kopf, Peabody. Wie soll ich mich bei all dem Unsinn auf mein Grab konzentrieren? Ich glaube, ich werde keine Ruhe bekommen, solange ich diese Angelegenheit nicht geklärt habe.«

Ich setzte mich, auf einmal hellwach, auf. »Also stimmst du meinem Vorschlag zu, den ich vor einiger Zeit gemacht habe, daß wir Armadale finden und ihn zwingen müssen, ein Geständnis abzulegen.«

»Sicherlich müssen wir etwas unternehmen«, meinte Emerson bedrückt. »Und ich gebe zu, daß – nachdem Milverton – Baskerville außer Gefecht gesetzt ist – Mr. Armadale als Hauptverdächtiger übrigbleibt. Hol den Kerl der Teufel! Ich war durchaus gewillt, ihn entwischen zu lassen, hätte er mich nur in Ruhe gelassen. Doch wenn er sich ständig in meine Arbeit einmischt, zwingt er mich, etwas zu unternehmen.«

»Was schlägst du vor?« fragte ich. Natürlich wußte ich sehr gut, was getan werden mußte, doch es erschien mir taktvoller, Emerson selbst darauf kommen zu lassen, mit Hilfe von gelegentlichen Fragen und Einwürfen meinerseits.

»Wahrscheinlich werden wir den Schuft suchen müssen. Es wird nötig sein, ein paar der Männer aus Gurneh dafür anzuheuern. Unsere Leute sind mit der Gegend hier nicht vertraut. Ich kenne einige dieser hinterlistigen Schurken recht gut. Und sie haben bei mir noch ein paar alte Schulden offen, deren Begleichung ich jetzt einfordern werde. Ich habe mir das für einen Notfall aufgehoben. Nun, glaube ich, ist dieser Notfall eingetreten.«

»Großartig«, sagte ich ehrlich begeistert. Emerson erstaunt mich immer wieder. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, daß er so skrupellos war oder daß er so enge Beziehungen mit den kriminellen Elementen von Luxor pflegte – denn mit den alten Schulden, von denen er gesprochen hatte, meinte er mit Sicherheit den Handel mit Fälschungen und gestohlenen Antiquitäten, der in diesem Landstrich gang und gäbe ist. Was er vorschlug, war kurz gesagt eine Form von Erpressung. Ich stimmte von ganzem Herzen zu.

»Ich werde den ganzen Vormittag brauchen, um das in die Wege zu leiten«, fuhr Emerson fort und wanderte wieder im Zimmer auf und ab. »Diese Leute sind so verflucht faul. Du mußt solange die Leitung der Ausgrabung übernehmen, Amelia.«

»Natürlich.«

»Tu nicht so gelangweilt. Du mußt mit äußerster Vorsicht zu Werke gehen und auf Steinschläge und Fallen aufpassen. Und falls du auf die Grabkammer stößt und sie ohne mich öffnest, werde ich mich von dir scheiden lassen.«

»Natürlich.«

Emerson blickte mich an. Sein finsterer Blick verwandelte sich in ein einfältiges Grinsen, das schließlich in ein herzliches Lachen überging. »Wir sind kein schlechtes Team, oder, Peabody? Übrigens, das Kostüm, das du trägst, ist ungewöhnlich kleidsam. Es erstaunt mich, daß die Damenwelt es noch nicht als Ausgehkleid entdeckt hat.«

»Ein Schlüpfer und darüber ein Bettjäckchen würden, selbst mit Spitzenbesatz, kaum ein passendes Ausgehkleid ergeben«, erwiderte ich. »Versuch jetzt nicht abzulenken, Emerson. Wir müssen noch eine ganze Menge besprechen.«

»Stimmt.« Emerson setzte sich ans Fußende des Bettes. Er nahm meine nackten Füße und preßte abwechselnd seine Lippen auf sie. Meine Versuche, mich zu befreien, waren vergebens. Und um ehrlich zu sein, ich gab mir auch keine sehr große Mühe.

Amelia Peabody 02: Der Fluch des Pharaonengrabes
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